Samstag, 17. Mai 2014

Sind eventuell existierende Geschlechterunterschiede gesellschaftlich und politisch überhaupt relevant und wenn ja, wie?

Es ist wohl im einzelnen sehr schwer auseinanderzuhalten was angeboren und was gelernt ist, insbesondere wenn es um das menschliche Geschlecht geht. Die ewige Diskussion um "Nature vs. nurture" ist auch in diesem Bereich nicht wirklich gelöst und derzeit statistisch nur sehr schwer, wenn überhaupt zu trennen. Aber selbst wenn, was dann? Nach der Lektüre über Geschlechterunterschiede in der Entwicklung des Menschen (Lohaus, 2013*), verschiedenen Diskussionen und Gedanken, denke ich sogar, dass wir das Offensichtliche nicht ignorieren können. Es gibt ein paar natürliche Unterschiede, die über die reine Existenz von Klitoris und Penis hinaus gehen. Dabei frage ich mich jedoch, ob das dann überhaupt gesellschafts-politisch oder gar menschenrechtlich relevant ist und wenn ja, wie?
Gehen wir davon aus, wissenschaftliche Befunde von mentalen, also geistigen Unterschieden bestätigen sich auch in der Zukunft. Dann sind dabei immer noch folgende Dinge zu bedenken:

Unterschiede werden maßlos übertrieben

Die meisten offensichtlich existierenden Unterschiede lassen sich allein mit Körper(teil)größen und Muskelstäre erklären. Dies betrifft z.B. durchschnittlich größere Kraft von Männern oder höhere Fingerfertigkeit von Frauen und hat Auswirkung auf mentale Fähigkeiten wie bereichsspezifische Geschicklichkeit. Wissenschaftlich diskutiert bleiben rein mentale Unterschiede. Vor allem dieser Typ von Unterschieden wird jedoch meist überhöht dargestellt. Ein Beispiel. Bei mathematischen-naturwissenschaftlichen Fähigkeiten gibt es nach meinem Wissen v.a. einen signifikanten Unterschied in den mittleren Leistungen im räumlichen Denken (gemessen mit Körper-Drehaufgaben). Witzigerweise bin ich als Frau darin gerade überdurchschnittlich gut. Solche Unterschiede zwischen Männern und Frauen liegen nämlich maximal bei so 10%. Damit bin ich also kein Spezialfall, sondern recht normal. Spezialfälle sind eher jene Menschen die eindeutig einem Stereotyp entsprechen und damit den Extrempolen der stereotypentreuen Ausprägungen liegen. Dies finde ich einen ganz entscheidenden Fakt, der sehr oft verdreht wird: Nur weil ein paar wenige Männer (oder Frauen) in gewissen Dingen besser sind, heisst das ja noch nicht dass fast alle Männer (oder Frauen) besser sind! Das heisst also die Mehrheit ist mal so und mal so, ob Frau oder Mann!
Anders gesagt: die Unterschiede zwischen Männern (bzw. zwischen Frauen) sind größer als der mittlere Unterschied zwischen Männern und Frauen. Das ist wie zwei statistische Geschlechts-Gauss-glocken, deren mittlere Werte wesentlich näher aneinander liegen, als deren einzelne Extremwerte. Für die meisten Eigenschaften liegen die Kurven sogar übereinander und für ein paar überdecken sie sich eben nur zu 90%, statt zu 100%.
Für die Einwände z.B. wacher Hobby-Psychologen mit kleinen Kindern bleibt zusätzlich z.B. folgendes zu bedenken: es gibt mehrere fundierte Studien, die zeigen, dass Mädchen in Matheaufgaben schlechter abschneiden, wenn Geschlechtersteoreotype auch nur aktiviert werden (gar nicht zu reden davon, wenn gar gesagt wird, dass Mädchen in Mathe schlechter sind). Wird dieser Einfluss ausgelassen, sind sie nicht schlechter als Jungen (ausser eben in den Rotationsaufgaben).
Viele (mentale) Unterschiede lassen sich nur auf ganz konkrete einzelne Bereiche und zudem nur relevant für einen geringen Prozentsatz der Bevölkerung nachweisen. Die anschliessende Frage ist dann, wie entscheidend das tatsächlich im Alltag für die Bewältigung von alltäglichen Aufgaben und dem Leben von Männern und Frauen im Allgemeinen ist!

Interpretieren wir die Konsequenzen der Unterschiede objektiv?

Ich wünsche mir, dass wir extrem vorsichtig bleiben, was die Interpretationen der Konsequenzen mentaler Unterschiede angeht. Erfolgen sie doch zu oft sehr Stereotyp-passend. Und ich denke auch, dass sich die meiste Kritik an diesen Interpretationen orientiert, nicht daran ob es Unterschiede gibt oder nicht. (Letzteres können wir ja nur wissenschaftlich beantworten.) So wurde z.B. das Argument, dass Frauen und Männer anders denken früher als politisches Argument genutzt um Frauen und Männer den Zugang zu Arbeits-Sphären zu verweigern, die angeblich nicht ihrem Geschlecht entsprechen. Aber selbst wenn gewisse Unterschiede existieren, macht das meines Erachtens keines der Geschlechter notwendigerweise besser für irgendwelche komplexen Aufgaben oder Jobs, z.B. für Führung oder auch für Kindererziehung, weil diese jeweils sehr vielfältige und sich überlappende  Fähigkeiten benötigt werden (z.B. Empathie als Gruppenleiter und als Eltern oder Durchsetzungsfähigkeit als Führungskraft und Daheim bei den Kindern).
Ich finde ausserdem, dass eventuelle Unterschiede zwischen Frauen und Männern eigentlich gerade danach verlangen, mehr geschlechts-vermischte Aufgabenverteilungen einzuführen. Ein Beispiel.: Politisch und menschenrechtlich wäre es nicht zu vertreten, wenn Interessen von angeblich oder eventuell anders denkenden Frauen und Männern nicht prozentual zum Bevölkerungsanteil im Parlament vertreten sind. Wenn Frauen und Männer wirklich anders ticken, macht das doch nur noch mehr offensichtlich notwendig, dass beide Geschlechter ihre eigenen Interessen in der Gesetzgebung vertreten können. Bei ethnischen Minoritäten oder von ethnisch vielfältigen Staaten wurde das ja auch schon eingesehen.

Wird der größte Unterschied angemessen betrachtet?

Der offensichtlichste Unterschied, also das (die meisten) Frauen Kinder gebähren können und Männer nicht (dank an Antje Schrupp für diese Gedanken), wird oft in Diskussionen weggelassen. Es geht immer darum ob Frauen anders denken oder nicht. Das mag ja sein. Aber damit wird auch dem ganz deutlichen Interessenskonflikt zwischen den Geschlechtern ausgewichen, der in deren Biologie liegt und gar nichts mit mentalen Unterschieden zu tun hat: Der Konflikt zwischen Entscheidungsfreiheit und Verantwortung. Frauen müssen die Kinder austragen, aber das gibt ihnen eigentlich theoretisch auch die Macht allein über alles vorgeburtliche zu entscheiden. Männer haben die Freiheit sich den direkten (körperlichen) Konsequenzen zu entziehen, dafür sind sie praktisch absolut auf die Frauen angewiesen, was die Entscheidung über die Existenz bezüglich ihres eigenen Nachwuchs angeht. Im Idealfall besteht hier natürlich Kommunikation und Vertrauen. Aber in der Praxis... Dieser Konflikt besteht eindeutig bis zur Geburt, aber indirekt auch danach, da Frauen immer noch zur Mehrheit die Fürsorgearbeit leisten (je älter die Kinder werden, umso balancierter wird es heutzutage zum Glück). Dieser Interessenskonflikt sollte in einer Gesellschaft fair gelöst werden und dafür kann ich nur wieder auf die zweite Hälfte vom vorangehenden Abschnitt verweisen: Frauen und Männer sollten gleichberechtigt ihre eigenen Interessen vertreten können. In der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft oder im Privaten. Sie haben biologisch, denn fortpflanzungstechnisch, offensichtlich unterschiedliche Ausgangspunkte.

Welche Rolle spielen Identitäten?

In der heutigen Psychologie ist ein sehr wichtiger Ansatz jener der Identität. Die Identitäten die wir uns schaffen, bestimmt sehr stark unser Sein, d.h. unser Erleben und Verhalten. Unsere Identitäten betreffen unser Geschlecht, unsere Kultur, unsere Profession, unsere Hobies und so weiter und so fort.
Warum und weshalb wir uns mit etwas identifizieren, ist sehr komplex (und eine weitere "nature vs. nurture" Frage?).
Auf der anderen Seite steht unsere praktisch ausgelebte Geschlechtlichkeit, sprich sexuelle Orientierung. Sie ist nicht nur von unserem biologischen Geschlecht bestimmt sondern auch von unserer geschlechtlichen Identität (auch als soziales Geschlecht bezeichnet). Von daher gibt es z.B. Menschen die im Gehirn asexuell funktionieren, obwohl sie ein bestimmtes biologisches Geschlecht besitzen. Es gibt Homo- und Heterosexuelle Menschen. Oder es gibt Menschen, die sich mit beiden Geschlechtern identifizieren. Ein weiterer Aspekt, wäre die Auswirkung gesellschaftlicher Normen auf Formen unseres sexuellen Verhaltens. Dies will ich hier aber nicht weiter betrachten.
Die Inhalte der einzelnen Identifikationen sind an Stereotypen angelehnt. Sie haben also einen sozialen Aspekt (sind nicht nur unser persönliches Produkt). Sie sind kulturell sowie historisch sehr variabel, was deren Beliebigkeit von Geschlechterstereotypen offen legt. Weiterhin erfüllt ein einzelner Mensch meist nur ein Teil der Stereotype, was wir dann als Individualität bezeichnen würden. Dem einzelnen Menschen ist mehr oder weniger frei gestellt, welche Teile er oder sie in seine oder ihre Identitäten einbezieht. Männlichkeit und Weiblichkeit sind damit nur zwei von mehreren möglichen Geschlechtsausprägungen. Und die gelebte Form hat biologische, kognitive und soziale Hintergründe.
Das heisst, es existieren einige Unterschiede zwischen den Geschlechtern, wir schaffen dann weitere und suchen uns mehr oder weniger das aus dem Pool heraus, was uns gefällt.

Fazit

Aber der Einfachheit halber zunächst zurück zur dichotonomen Betrachtung. Das Fazit des oben erwähnten Buches, fasst den derzeitigen Forschungsstand recht gut zusammen:
"Wenngleich sich Frauen und Männer, Mädchen und Jungen in vielerlei Hinsicht ähnlich sind, gibt es ganz offensichtlich auch Unterschiede in ihrem Verhalten, die erklärungsbedürftig sind. Die einzelnen in diesem Kapitel vorgestellten theoretischen Erklärungsansätze liefern Hinweise auf den Einfluss biologischer Grundlagen, der sozialen Umwelt und kognitiver Strukturen, die für sich genommen jeweils nur einen begrenzten Erklärungswert besitzen. Höchstwahrscheinlich kann man jedoch davon ausgehen, dass sie in ihrem Zusammenspiel einen großen Teil der Geschlechtsunterschiede erklären können."*

Aber ob es nun Unterschiede gibt oder nicht, politisch und gesellschaftlich gesehen verlangen beide Fälle eigentlich nach einer äquivalenteren Repräsentation von Frauen UND Männern in allen gesellschaftlichen Sphären, den öffentlichen und den privaten, als wir es im Moment sehen. Ich möchte nochmal betonen, dass dies nicht heisst, eine 50-50 Lösung für Karriere und Familie sei ein Muss für jeden Einzelnen. Stattdessen sollte für alle Geschlechter ein Pool verschiedener Optionen offen stehen, aus denen das Individuum abhängig von seinen Wünschen und Lebensbedingungen auswählen kann. Erwartungsgemäss ergäbe dies in der Gesellschaft jedoch eine differenziertere Verteilung der Geschlechter auf die verschiedenen Arbeitsteilungsbereiche als es der Status-Quo aufweist.

Wenn Frauen und Männer im Durchschnitt (bis auf ihr biologisches Geschlecht) absolut gleich wären, dann wäre eine (stärkere) Zuordnung der Geschlechts zu einem Aufgabenbereich komplett willkürlich und damit offensichtliche Diskriminierung beider Geschlechter. Wie rechtfertigen wir dann z.B. den Erwartungsdruck, der Frauen zum Grossteil in die private und Männern in die öffentliche Sphäre sendet?
Wenn Frauen und Männer sich nun aber in auch nur einer einzigen Eigenschaft unterscheiden, verlangt dies noch offensichtlicher nach gleichen Möglichkeiten zur Vertretung der jeweils eigenen Standpunkte und Interessen in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Andernfalls erheben wir doch ein Geschlecht (welches auch immer das sein mag) über das andere, da ersteres über letzteres in den genannten Bereichen entscheiden darf, ohne wirklich beider Standpunkte einfliessen zu lassen. Wie wollen wir so eine einseitige Übergehung rechtfertigen?

Und beziehen wir zusätzlich die ansatzweise dargelegte wahre Vielfältigkeit der Geschlechter ein, wird es noch schwieriger eine dichotonome Arbeitsaufteilung zu rechtfertigen.

Insofern können auch Feminist_innen, Männerrechtler, u.a. selbstbewusst mit nachgewiesenen Unterschieden umgehen ohne Einbussen in der Kritik an den Interpretationen dieser Unterschiede oder in ihrem Forderungen nach Recht auf Gleichberechtigung einstecken zu müssen.

*Lohaus, A., Vierhaus, M. (2013). Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters für Bachelor. 2. Auflage. Heidelberg: Springer.

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